Hymne an das natürliche Essen - Bistro Ginkgo von innen
Von Min Busch, Vilamoura, den 15. Januar 2022
7 Benchmarking in Vilamoura
An Vilamouras Hafen halten große Yachten und kleine Boote. Es ist Mitte Januar. 17 Grad Celsius bei strahlendem Sonnenschein. Gefühlt deutlich über 20 Grad. Gerade haben wir am menschenleeren Strand versucht, mit dem Blick auf das ruhige, silbern schimmernde Wasser zu unserer inneren Harmonie zu kommen. Ein Strandrestaurant, das wie eine Hütte auf dem Sandstrand steht, hatte zwar die Tür weit offen, drinnen waren aber weder Kellner noch Gäste zu finden. Vermutlich liefen die ersten Vorbereitungen für die Wiedereröffnung nach der Winterpause So setzten wir uns einfach auf deren Südterrasse. Der Plankenboden war unter der Mittagssonne recht warm. So konnten wir uns sonnen, ohne jemanden zu stören oder selbst gestört zu werden. Die Sache hatte nur einen Haken: Als ich meinen Laptop einzuschalten versuchte, stellte ich in der nächsten Sekunde schon fest, wie lächerlich meine Idee war: Die Sonne schien so stark, dass es für mich unmöglich war, mit dem Blick auf den Atlantik zu schreiben. Trotz maximaler Leuchtkraft schien der Bildschirm schwarz zu bleiben.
Dabei waren wir doch bestens ausgestattet: Mineralwasser aus dem nahen Monchique-Gebirge mit einem pH-Wert von 9,4 - ich glaube fest daran, dass dieses Mineralwasser mir helfen wird, überschüssige Säure in meinem Körper zu neutralisieren - und geröstete Mandeln. Aber weg mit uns, wir brauchen ein schattiges Plätzchen.
Vorbei am Hotel Tivoli, vorbei an einem fast voll besetzten China-Restaurant, blieben wir bei einem Inder stehen. Keine Menschenseele, schön schattig. So schlug ich meinem Mann vor, einfach an einem der acht Tische im Außenbereich das „Remote-Working“ zu üben. Nur ein schmaler Durchgang in der Glasfassade stand offen. Innen keinerlei Beleuchtung. Man könnte meinen, das Restaurant hat zu. Nein, da irrt man sich: Es war geöffnet!
Da dachte ich an die Bemerkungen von meinen Gästen, die mir sagten, dass man zu unseren Öffnungszeiten oft den Eindruck hätte, dass wir geschlossen seien. Bei uns war es so, dass mein Mann zu Stoßzeiten ständig Bestellungen zu den Kunden brachte, während ich mutterseelenalleine hinten in der Küche am Herd stand und kochte. Wir haben extra eine Klingel an der Tür, so dass unsere Gäste mich aus der Küche klingeln können. Denn oft koche ich mit vier bis fünf Feuern. Da ist höchste Konzentration erforderlich. Wenn es klingelt stelle ich zuerst sicher, dass alle Flammen ausgeschaltet sind, bevor ich zur Tür renne, um die Gäste willkommen zu heißen. Und da man ja vermutlich mit Hunger und Durst bei uns ankommen, wir aber keine Möglichkeit haben, einen umfangreichen, persönlichen Service mit viel Zeitaufwand anzubieten, kompensierten wir dieses Defizit mit einer hausgemachten Limonade sowie einem oder zwei Tellern „Gruß aus der Küche“. So können unsere Gäste bei einem hoffentlich wohlschmeckenden Getränk in aller Ruhe die Gerichte, auf die sie Lust haben, aussuchen. Da ich häufig sowohl koche als auch serviere, bieten wir „Family Style“ an. Jedes Gericht kommt in die Mitte und man teilt sich alles. Jeder kann probieren. Das ist in China üblich und wird Gott sei Dank auch von unseren Gästen gerne angenommen.
Sobald mehrere Bestellungen gleichzeitig laufen, koche ich je Gericht etwas mehr Menge. So können wartende Gäste von dem Probieren, was andere Gäste bestellt haben. So kommen meine „Grüße aus der Küche“ zustande. Es kam vor, dass ich einen einzigen Gast dreimal aus der Küche gegrüßt habe. Einmal scherzte der Gast am Nachbartisch, wenn ich es weiterhin so treiben würde, dann kann man satt rausgehen, ohne überhaupt zu bestellen. Ich bin sehr dankbar, dass meine Gäste meine Art nicht als „aufdringlich“ empfanden, denn schließlich habe ich deren „Raum im Magen“ ohne Abstimmung mit besetzt.
Manchmal bekam ich die freundliche Aufforderung: Machen Sie ruhig weiter so! Das ist natürlich eine tatkräftige Unterstützung und Belohnung, denn ab diesem „Go“ habe ich freie Hand, eine „Essens-Symphonie“ zu komponieren, mit Auf und Ab, sanft und intensiv. Prinzipiell kommt immer nach einem Höhepunkt etwas Leichtes, um den Geschmackssinn zu neutralisieren. Dabei muss ich nur vorher klären, ob der Gast ein Flexitarier, ein Vegetarier bzw. Veganer ist oder andere Vorgaben zu den Zutaten machen möchte. Solche „Kompositionen“ habe ich selbstverständlich entsprechend dieser Optionen vorbereitet, auf dem Papier wie im Kopf. Zur Interpretation meiner eigenen Komposition benötige ich absolute innere Ruhe sowie höchste Konzentration. Auch die Vorlieben für bestimmte Geschmacksrichtungen des Gastes behalte ich im Hinterkopf.
Nun, zurück zu unserem „Inder“: Ich wollte schon immer ein indisches Restaurant aufsuchen, das typisch Indisches Essen anbietet, und nicht „eingedeutschte“ Küche. Zu unserer Überraschung durften wir bestellen, und die Karte versprach etwas Typisches zu bieten. Nachdem wir die umfangreiche Speisekarte durchstudiert hatten, baten wir vor der Bestellung den Kellner, uns zwei typisch indische Gerichte aus deren Karte zu empfehlen. Er fragte: „Was darf es sein? Hähnchen, Fisch oder Lamm oder vegetarisch?“ Wir haben uns vorher schon für den Lamm entschieden. Also einmal Lamm Tikka Masala einmal Lamm Rogan Josh. Als zweite Frage kam von ihm: „Darf es scharf sein oder eher mittelscharf?“ Wir fragten ihn, was er selbst nehmen würde. Er entgegnete: „Scharf“. Also sollten wir uns zwischen „mittelscharf“ und „scharf“ entscheiden. Tja, was ist denn überhaupt scharf, und was ist mittelscharf?
In diesem Moment leuchtete mir ein, dass Geschmack nicht in Worte zu fassen ist, und somit eine verbale Definition für „scharf“ und „mittelscharf“ mir fast absurd vorkam. Wir entschieden uns für „scharf“, mit dem Bewusstsein, die grenzwertige Schärfe, die dieses Restaurant für uns angemessen hält, einmal kennenzulernen. Zu unserer positiven Überraschung kam doch zweimal ein „mittelscharfes“ Gericht, weil der Koch davon ausging, dass wir das richtig scharfe Gericht ohnehin nicht aushalten würden. Wir probierten die beiden Gerichte nacheinander und sind von den wohlschmeckenden und gut gewürzten Lammgerichten sehr beeindruckt. Sie schmeckten wie hausgemacht, ohne Zusatzstoffe, duftig und angenehm scharf. Doch die Schärfe stand im Hintergrund und unterstrich das natürliche Umami des Lammfleischs. Perfekt – Essen und Service beides Top, Fünf Sterne Bewertung.
Diese Erfahrung mit der Schärfe sowie die Entscheidung durch Service und Koch haben mich an die eigene Erfahrung im Bistro Ginkgo erinnnert. Mir fällt jetzt plötzlich ein junger Gast aus Duisburg ein, der unser Gericht „Ameisen klettern auf den Baum“ (蚂蚁上树, in Klarschrift: Rinderhack mit Glasnudeln in hausgemachter Szechuan Soß) bestellte. Erst einige Minuten, nachdem ich serviert hatte, bemerkte ich, dass das Gericht viel zu scharf war. So lief ich aus der Küche an seinen Tisch und bot unserem Gast an, das Gericht noch einmal zu kochen. Nun, er war mit seiner chinesischen Freundin zusammen, war vermutlich mit chinesischem Essen vertraut. Seine Reaktion war sehr freundlich. Er entgegnete: „Ich dachte, das Gericht muss so schmecken.“ Seine Freundin zeigte auf seine Stirn: Große Perlen Schweiß saßen darauf und jede davon glänzend, als würde jede dieser Perlen mich anlachen. Mensch, war dieser Anblick unangenehm für mich! So erklärte ich ihm, woher es kam:
Unsere Szechuan Soße fertige ich selbst an. Im Wesentlichen, indem ich die großen getrockneten Chilis aus Chengdu mit einer Küchenmaschine zerkleinere, um dann etwa 150 Grad heißes Öl darauf zu gießen. Übernacht kühlt das Öl ab. Dann wird sanft gerösteter und zu Pulver gemahlener Szechuan-Pfeffer untergerührt. Umfüllen in 1 L-Flaschen, und ab ins Kühlhaus. Reifung bisher über 6 Monate. Das ist unsere „Szechuan-Soße“, internen Version „Nr. 0“. Nr. 0 deswegen, weil es die Basissoße ist und es bei uns auch noch Nr. 1 und Nr. 2 gibt, für unterschiedliche Anwendungen.
Doch Ende Dezember 2020 ging ja mein Chili aus Chengdu aus. Es war die Pandemie-Zeit. Wir fuhren nach Düsseldorf auf die Immermann-Straße, leider waren die angebotenen Chilis nicht in meiner gewünschten Qualität. Und ich griff bei der Produktion nach dem Piri Piri, den wir von unserem Algarve-Aufenthalt 2019 nach Hause geschleppt hatten. Damals war ich noch keine professionelle Köchin, und es fehlte mir einfach die Erfahrung mit unbekannten Zutaten. Also hatte ich zu Hause noch nie Piri Piri verwendet. Anstatt des vertrauten Chengdu-Chili verwendete ich jetzt das unbekannte Piri Piri – und das mit fast demselben Mengenverhältnis Chili-Öl. Wenn dies kein Fehler ist!
Ich war unmittelbar nach der Produktion selbst beeindruckt, wie viel schärfer diese „Nr. O“ Szechuan Soße war, und dachte noch ganz naiv: Mit der Zeit wird die Schärfe schon abnehmen. Pustekuchen! Es wurde immer schärfer und intensiver.
Piri Piri ist gefühlt nicht nur 10fach schärfer als Chengdu Chili, es ist auch sehr sehr schwer und sinkt auf den Boden der 1 Liter Flaschen. Bei der Zubereitung des oben genannten Gerichtes habe ich die Flasche wie gewohnt aufgeschüttelt, um die zähe Masse direkt in den Topf zu geben. Blub, blub - anstatt des einen Teelöffels kamen zwei raus. Ich dachte: Blöd! In diesem Moment stieg auch schon die Schärfe in meine Nase. Ich koche übrigens mit meinem Geruchssinn und niemals mit meinem Geschmackssinn, weil jener mir viel konstanter und zuverlässiger vorkommt. Mit gewisser Unsicherheit füllte ich das Essen doch um und behielt einen Löffel von den „Ameisen und Bäumen“ zur Selbstverkostung zurück. Bei vier Feuern und hohem Tempo einerseits und vollster Sicherheit und Souveränität, im festem Glauben an meine Kochfertigkeit andererseits, tat ich es „natürlich“ mit der umgekehrten Reihenfolge: Zuerst servieren, dann selbst probieren. Gut, ich probiere in der Tat vielleicht nur einmal im Monat. Und dieses eine Mal war das Jetzt.
Mensch, war es scharf, diese Piri Piri Szechuan Soße! So scharf, dass man sich die Zunge verbrennt, der Geschmackssinn wird komplett betäubt. Wenn man einen Termin beim Zahnarzt hätte, bräuchte man keine weitere Betäubung. Dies war meine erste, richtig einprägsame Erfahrung, eine portugiesische Zutat in ein traditionell chinesisches Soßenrezept zu integrieren. Nie wieder, so meine Erkenntnis, nicht weil mir Piri Piri nicht gut genug ist, sondern weil es einfach nicht passt.
Fast ein ganzes Jahr später, im September 2021, fand ich zu meiner großen Freude das von mir gewünschten Chili zunächst in Antwerpen, zwei Wochen später in Amsterdam. Nun bin ich mit Chili aus Chengdu (und auch aus Chongqing) bestens versorgt, verfüge sowohl über die Erkenntnis als auch über die Bezugsquelle. So ein „Unfall“, wie ich meinem jungen Gast zugefügt habe, wird nicht nochmal vorkommen. Und zu meiner Beruhigung kamen diese beiden Gäste bereits einen Monat später wieder zu uns. So bin ich für das Verständnis, die Akzeptanz sowie die Toleranz meiner Gäste sehr dankbar.
Nun, zurück zum indischen Restaurant in Vilamoura: Zum Trinken haben wir Chai-Latte bestellt, mit der Bemerkung, bitte den Zucker wegzulassen. Die Antwort war: Sie würden nie Zucker in die Chai-Latte reintun! Ach wie schön! Kardamon schmeckte man eindeutig raus, speziell, und lecker!
Einige Bissen später fanden wir heraus, dass die „mittelscharfe“ Würzung doch für unsere Verhältnisse recht scharf war, denn eine Schüssel Basmati-Reis hat uns nicht gereicht, um die Gerichte zu begleiten. Am Ende brauchte es zwei Schalen Reis und zwei Portionen Nan-Brot. Insgesamt entsprach das Essen genau unserem Appetit, wir waren satt und zufrieden.
Würde das Gericht bei Bistro Ginkgo sein, so wäre die Portion maximal eine „Kostprobe“, denn unsere Menge ist mindestens zweimal so viel wie hier beim Inder. Denn ich habe Angst davor, meine Gäste könnten nicht satt werden. Wir bieten daher auch immer an, bei einer zu großen Portion den Rest mit nach Hause zu nehmen, was bei über 95% der Gäste gerne in Anspruch genommen wird.
Beide Gerichte des indischen Restaurants sind ja nach dem Prinzip „Stew“ (also quasi wie Gulasch) zubereitet, so dass eine Küche sehr große Mengen vorproduzieren kann, um sie portionsweise einzuvakuumieren. Ich weiß nicht, ob sie in der Tat diese Vorgehensweise verwenden. Das können und wollen wir nicht. Denn zum einen haben wir haben von Anfang an die „Frische“ als eine Kernkompetenz auf die Fahne geschrieben und haben es durchgezogen. Zum anderen führen wir keine Gerichte, die für dieses Weise der Vorproduktion geeignet sind.
Als Nachtisch haben wir die angeblich berühmteste und beliebteste Süßspeise aus Nordindien bestellt. Diese besteht aus heißen, aus Kokosnuss und Zucker zubereiteten Bällchen. Uns wurde „sehr süß“ prophezeit, und obwohl wir möglichst industriellen Zucker meiden, möchten wir rein aus Neugier den Geschmack probieren. Wir möchten die Schärfe, die Süße sowie die indische Geschmacksvielfalt wahrnehmen und abzuspeichern, damit ich diese Geschmäcker anderer Nationen jederzeit abrufen kann. Denn wir haben Gäste aus vielen Ländern der Welt. Den Nachtisch hier empfanden mein Mann und ich angenehm süß, so wie türkische Süßspeisen, die wir aus Duisburg kennen. Der Kellner war höchst erfreut über unser Feedback, und verriet freundlicherweise das Rezept mit den Verhältnissen. Da sehe ich eine Ähnlichkeit zwischen seinem Service und unserem. Denn ein Vollblutgastronom hat das Interesse, dass seine Kochkunst weiter verbreitet wird; er hat genug Selbstvertrauen, dass ihn niemand so schnell nachkochen kann. Wenn dies so leicht möglich wäre, dann zeigt es nur einen Fakt: Der Koch selbst hat keinen ausreichenden Wissensvorsprung!
So saßen wir an einem der Tische mit Blick auf den Hafen, stundenlang noch, nach dem wohltuenden Mittagessen - inzwischen war das Restaurant tatsächlich geschlossen - bis die Sonne so langsam schräg stand und die Fassaden der Gebäude einen rötlichen Stich bekamen. Durch das lange Sitzen bekam ich nun kalte Füße und kalte Hände.
Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.
Wir sind so dankbar, so einen glücklichen Tag erleben zu dürfen.
Guten Appetit
Wünscht Ihnen das Bistro Ginkgo Team, diesmal aus Vilamoura/Algarve/Portugal
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