Hymne an das natürliche Essen – Bistro Ginkgo von innen
Von Min Busch, Am Wiesensee, den 8. Juni 2021
4 Was schmeckt am besten?
Die Corona-Pandemie dauert schon mehr als ein ganzes Jahr. Der Trend, sich vegetarisch und vegan zu ernähren, geht mit dem Umweltschutz einher und wird durch die Pandemie verstärkt. Doch was soll man tun, wenn die Vernunft nach Gemüse schreit, und der Gaumen was anderes will? Viele Gastronomen als auch die Lebensmittelindustrie folgen dem Ansatz, aus pflanzlichen Zutaten den Geschmack von Fleisch zu erzeugen. Ist es nicht absurd? Mir kommt diese Philosophie vor, als würde jemand seinen Partner deswegen heiraten, weil dieser dem Ex ähnelt. Würde diese Beziehung zum Glück führen und lange anhalten, für beide Partner? Ich fürchte nicht. Denn jeder will von seinen Mitmenschen so akzeptiert werden, wie er ist – und nicht, weil er der Doppelgänger eines anderen Daseins zu sein scheint.
Würden Gemüse, Obst, Kräuter etc. uns Menschen direkt ansprechen, so würden sie beim Betrachten unseres Handelns entsetzt oder traurig sein, was wir aus ihnen machen, nur um ihre eigenen Geschmäcker zu vertuschen. Aber warum? Weil man davon ausgeht, dass der Gaumen des Menschen den Fleischgeschmack braucht. Man will vom Fleisch wegkommen, und simuliert mit Gemüse den Fleischgeschmack. Also etwas loslassen wollen, indem man es umso fester an sich bindet. Ist das nicht absurd?
Chinesische Geschäftsreisende kommen oft mit deutschem Restaurantessen nicht zurecht. Insbesondere, wenn sie länger als eine Woche in Deutschland unterwegs sind, vermissen sie Gemüsegerichte, vor allem warme Gemüsegerichte. Für chinesische Mägen zählen nur warme Mahlzeiten als richtige Mahlzeit. Einmal war ich mit dem Vorstandsmitglied eines chinesischen Konzerns unterwegs. Er war ein Liebhaber deutschen Essen. Doch nach einigen Tagen Euphorie über Haxen, Zwiebelrostbraten, Würste und Lammfleisch sehnte er sich nach Gemüsegerichten und wollte unbedingt bei einem chinesischen Restaurant sein Heimatessen genießen. Zugegeben, dies war vor etwa zehn Jahren. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ein Chinarestaurant oft nicht das typisch chinesische Heimatessen bot, welches er von Zuhause gewohnt war. Obwohl er auf Chinesisch höchstpersönlich alle Gerichte für den ganzen Tisch bestellte, erinnere ich mich genau in diesem Moment an sein Kommentar nach dem Essen: „Min, Du hast recht: Auf deutschen Speisekarten dreht sich alles um Fleisch. Doch warum ist es im Chinarestaurant auch so? Gibt es in Deutschland kein Gemüse?“ Was ihn enttäuschte war, dass jede Fleischsorte mit demselben Gemüsemix und einer der fünf Standardsoßen kombiniert wurde – was raus kommt, ist eine sehr lange Speisekarte mit wenig Geschmacksvielfalt. Die durch und durch nach Glutamat schmeckende Soße überdeckt alles, was von Natur aus Geschmack hat. Meine Antwort an den Konzernvorstand war: „Selbstverständlich gibt es in Deutschland auf dem Frischmarkt oder im Supermarkt Gemüse, aber Fleisch ist ja billiger.“
Seit dieser Erfahrung empfehle ich umso mehr das typisch deutsche Essen, wenn ich mit chinesischen Gästen in Deutschland unterwegs bin. Egal wohin wir fahren, probieren mein Mann und ich immer liebend gern die regionale Küche. Und erfahrungsgemäß schmeckt die typisch lokale Küche immer am besten. Jede typisch regionale Küche ist Ausdruck einer langen Tradition, dem menschlichen Gaumen mit natürlichen Zutaten eine Freude zu machen. Traditionsgerichte sind bewährt – und ihre Geschichte ist viel länger als die der modernen Lebensmittelindustrie.
Als Kind habe ich zufällig in verschiedenen Städten in sehr verschiedenen Regionen gewohnt, und immer schmeckte mir das Essen meiner neuen Heimat vorzüglich. So fragte ich eines Tages als kleines Mädchen meine Mutter: „Was schmeckt denn am besten?“ Die Antwort war unverständlich: „Der Hunger.“ Wie bitte? Kann man Hunger essen?
Mit dieser Antwort zitierte meine Mutter den berühmten Kaiser Qianlong der Qing-Dynastie, der 1751 inkognito seine erste Reise ins Yangtse-Delta unternahm, und diese Region zeit seines Lebens insgesamt sechs Mal besuchte. Eines Tages kam der Kaiser hungrig in einem abgelegenen Dorf an, fand weit und breit keine Gaststätte und suchte eine arme Bauernfamilie auf. Der Mann war unterwegs, nur die Frau war zu Hause. Sie war sehr erfreut, dass sie überhaupt von so edel gekleideten Fremden Besuch bekam, fand aber zu Hause nichts Leckeres als zwei Stückchen Tofu. So ging sie aufs Feld und zog einige Spinatpflanzen samt Wurzeln aus der Erde. Diese wusch sie sauber, kochte eine Suppe mit Tofu und Spinat. Dem hungrigen Kaiser schmeckte das Gericht hervorragend und fragte nach dem Namen des Gerichtes. Nun, Tofu mit Spinat würde ja viel zu banal klingen. So kam die Antwort vom kaiserlichen Begleiter: „金镶白玉板,红嘴绿鹦哥“[1], was so gut heißt wie: „Weiße Jade mit goldenem Rand, grüner Papagei mit rotem Schnabel“. Der Tofu wurde vorher in Öl gebraten und war somit goldbraun. Spinatwurzel schmeckt süß und bildet farblich einen Kontrast zu den grünen Blättern – dies erinnert einen an einen schönen Papagei.
Zurückgekehrt an seinen Hof verlangte der Kaiser, dass seine Hofköche ihm das leckere Papagei-Gericht kochen, aber niemand wusste, was mit dem Namen des Gerichtes gemeint war. Nun, Gerichte für den Kaiser waren schon immer sehr aufwendig und sehr fein. Wer würde sich als Koch für „Haute Cousine“ mit so was Banalem wie „Tofu mit Spinat“ abgeben? Der Kaiser Qianlong ließ die Bauernfrau an den Hof kommen. Sie kochte dasselbe Gericht nocheinmal für ihn. Doch merkwürdigerweise schmeckte es nicht mehr so gut wie damals bei ihr zu Hause. So erklärte sie dem Kaiser: „Sie waren damals hungrig und hatten Durst. Zudem waren Sie auch sehr müde und es war ein sehr heißer Tag. Daher hat das Essen natürlich sehr viel besser geschmeckt.“
Speisen sind primär dazu da, den Hunger zu stillen. Doch es gibt Gerichte, die tief ins Gedächtnis eindringen. Der Grad des Wohlgeschmacks geht weit über die Zufriedenheit, den Hunger zu stillen, hinaus. Ich möchte mit meiner Komposition Gericht für Gericht einen Bestseller-Status erreichen, so dass meine Gäste sich nach dem Geschmack sehnen – und nirgends auf dieser Welt dasselbe Gericht ein zweites Mal finden. Das kann nur gelingen, indem ich mich mit dem natürlichen Geschmack jeder einzelnen Zutat beschäftige, diesen hervorhebe sowie kombiniere – sei es zur Verstärkung oder zur Ergänzung – und ein hervorragendes Konzert komponiere.
Ja, für mich fängt der Job „Koch“ bei der Komposition jedes einzelnen Gerichtes an, geht dann von Solospieler über Dirigenten zum gesamten Orchester. Doch warum nehme ich nicht direkt ein fertiges Stück und spiele es „nur“, nach meinem besten Wissen und Gewissen? Weil die Vegetation auf der ganzen Erde anders ist, weil in Deutschland völlig andere Gemüse- und Obstsorten vorherrschen als in China. Daher möchte ich mich konkret mit jeder Art Zutat befassen und lasse mich selbst überraschen, was als Ergebnis herauskommt.
Das Ziel für mich ist, etliche Gerichte zu kreieren, bei denen ich später als Feedback von meinen Gästen höre, und zwar immer wieder höre: „Bei Bistro Ginkgo schmeckt es mir am allerbesten!“ Und in der Tat, in der kurzen Geschichte von Bistro Ginkgo habe ich das Lob als „Komponistin“, „Solospielerin“ und mittlerweile als Spielerin eines Doppels[2] bezüglich einiger unserer Gerichte gehört: Teriyaki Lachs, Mapo Tofu, Ameisen klettern auf den Baum, Jiaozi, Menmian, Kimchi, alle Soßen... Solche Momente machen mich äußerst glücklich, weil das, was ich anstrebe, von unseren lieben Gästen als gelungen anerkannt worden ist.
Guten Appetit
wünscht Ihnen das Bistro Ginkgo Team
Am Wiesensee, den 8. Juni 2021
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