Hymne an das natürliche Essen – Bistro Ginkgo von innen
Von Min Busch, Duisburg, den 20. September 2021
5. Kleine Jiaozi, große Jiaozi
小饺子、大饺子 (xiǎo jiǎozi, dà jiǎozi)
Ich liebe Jiaozi. Schon als Kind liebte ich Jiaozi.
Als ich sechs Jahre alt war, durfte ich beim Jiaozimachen mitspielen. Mutter hat nicht groß angekündigt, dass ich das Jiaozimachen lernen würde. Mir wurde nur gezeigt, wie man den Teig mit Füllung zusammendrückt. Drücken ist das korrekte Wort: Das Wichtigste beim Zumachen ist, dass jede einzelne Jiaozi beim Kochen zubleibt. Wenn man sie später isst, werden die Aromen samt Soßen und Suppe eine herrliche Überraschung. Stück für Stück.
Mama hatte zu mir gesagt: Es gibt keine hässlichen Jiaozi, denn die Falten werden nach dem Kochen oft nur noch schwer zu erkennen sein. Im Gegensatz dazu würden zerplatzte Jiaozi nach nichts schmecken - in dem Fall wird das Kochwasser gewürzt. Gut fürs Kochwasser, schlecht für die Jiaozi. So ganz nebenbei: In Tianjin, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte und wo die Jiaozi-Kultur sehr floriert, gibt es einen wunderbaren Brauch, zusammengefasst in dem Sprichwort "原汤化原食”[1], übersetzt heißt es so schön wie "Die Originalsuppe hilft bei der Verdauung des Originalessens."
Darum konnte ich zu Anfang nur ein kleines Häufchen Füllung in den Teigmantel packen, um mit meinen kleinen Fingern Falte für Falte so zuzukneten, dass die Jiaozi das Kochen in der Tat auch überlebt. Denn würde das Kochen nicht überlebt, so konnte ich nur die von den Erwachsenen gemachten Jiaozi essen, aber niemals meine eigenen. Das wäre für mich eine Katastrophe gewesen. Zugegeben, die von den Erwachsenen hatten eine sehr viel größere Füllung, und schmeckten darum viel besser. Aber die eigene Arbeit im Suppen-Nirwana zu wissen, war für mich immer schmerzhaft. Wie sehr ich Jiaozi auch mochte, das Falten selbst machte viel mehr Spaß, als der Genuss des gemeinsamen Spielergebnisses.
Meine größte Jiaozi Heldin war jedoch nicht meine Mutter, sondern die Oma "Da Niang". Sie stammte aus der Provinz Shandong, chinaweit berühmt durch die klitzekleinen, wunderbar künstlerischen Jiaozi. Kurzum klein, fein, mit hunderten unterschiedlichen Falttechniken, womit man ein ganzes Jiaozi Bankett, ohne wiederholende Optik, präsentieren kann.
Jedes Jahr besuchten wir zum chinesischen Neujahrsfest die Da Niang, und sie bereitete ein Festmahl mit Jiaozi vor. Festmahl bedeutete, dass es Fleisch in der Füllung gab, weil Fleisch so rationiert war, dass man pro Person und Monat nur 250 Gramm Fleisch kaufen durfte. Festmahl bedeutete für mich, dass jeder Jiaozi klitzeklein war, als hätte man sie extra für mich als sechs jähriges Mädchen gefaltet. Was ich am meisten bewunderte, war, dass jeder noch so kleine Jiaozi mindestens 20 Falten hatten, symmetrisch platziert, zehn links und zehn rechts, die Falten beider Seiten war zur Mitte ausgerichtet, jede Falte etwa einen Millimeter breit. Und die Vorderseite war schön glatt. Da Niang platzierte die fertig gefalteten und rohen Jiaozi reihenweise auf einem großen Bambusbrett. So standen sie wie Parade übende Soldaten, jedes Stück haargenau gleich, alle standen mit derselben Körperhaltung und schauten in dieselbe Richtung.
Das Beste am Besuch bei Da Niang war: Ich durfte nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen! So wurden meine Jiaozis von "schlafend" zu "stehend", die Falten wurden von unregelmäßig zu regelmäßig, auch die Anzahl der Falten nahm zu. Es war unheimlich schwierig, alle Falten genauso symmetrisch hinzubekommen, wie meine große Lehrmeisterin Da Niang. Oft hatte ich links fünf Falten und rechts nur drei. Bei jedem gescheiterten Versuch, symmetrische Jiaozi zu falten, dachte ich, das Schicksal entscheidet über die Anzahl der Falten, und nicht ich selbst. Und die kleinen Jiaozi schmecken natürlich am besten: Der Teig hauchdünn, schön glatt und doch bissfest. Jeder einzelne kleine Jiaozi war ein Kunststück und schien zu schade zum Essen. Jeder Biss war für mich ein Glückserlebnis.
Bei Bistro Ginkgo lehnte ich am Anfang Jiaozi kategorisch ab. Vielleicht weil ich den Idealzustand kunstvolle Jiaozi schon im Kindesalter live erlebt hatte? Wenn der Qualitätsstandard der Perfektion zu nahe ist, dann wird eine im Grunde einfache Sache zu einem Problem. Doch der Corona Lock-down hielt alle potentiellen Kunden weit weg von uns. Kunden ließen sich gar nicht blicken und wir hatten von unseren frischen Einkäufen Überfluss. Wohin damit?
So waren für Bistro Ginkgo die Jiaozi als eine ganze Produktreihe geboren, selbstverständlich aus eigener Fertigung. Sie bilden den idealsten "Stausee" für unsere frischen Zutaten. So boten wir zwischenzeitlich mehr als 20 verschiedene Füllungen an. Wir listeten jedoch bald die Jiaozi mit Schweinehackfleisch aus, weil wir bemerkt haben, dass sie nur selten bestellt werden. Und leider damit verbunden auch das sehr gern bestellte Gericht "Teriyaki Schweinebauch". Tja, wenn der Stausee nicht regelmäßig abfließen kann, dann verliert er seine Funktion, kann sich nicht mehr Stausee nennen[2].
Was die Machbarkeit des Produktes Jiaozi bei Bistro Ginkgo angeht, so gab es für mich keine Alternative: Jedes Stück per Hand falten. Auch Teigmantel und Füllung natürlich komplett selbst gemacht, alles aus frischen Zutaten, komplett natürlich und ohne Zusatzstoffe. Dabei müssen sie möglichst groß sein – ich muss ja jedes einzelne Stück per Hand falten – , sie müssen für den Transport geeignet sein und auch nach einer halben Stunde beim Gast zu Hause immer noch super gut schmecken – wir hatten ja Lock-down und vor Ort im Bistro durfte kein Kunde speisen. Also wurde der Standard recht bald klar: 1) Eier müssen in den Teig eingearbeitet werden, damit der Mantel fest bleibt, insbesondere um die Zeit zwischen Garung und Kundenmund gut zu überstehen. 2) Groß genug müssen sie sein, denn meine Finger bekommen nach dem Falten von 200 Stücken Muskelkater. Also jede Muskelkater-Aktion soll möglichst viele Kunden satt machen. Aber dennoch müssen sie klein genug sein, um als Jiaozi gelten zu können. Ansonsten wären sie ja eher Baozi. 3) Gebraten müssen sie sein, denn gebraten sind sie schneller gar und ohne Marktstudie war ich mir sicher, dass der knusprige Boden der gebratenen Jiaozi einen besonderen Pluspunkt bringen wird.
So pflegen wir seit Dezember 2020 unser Jiaozi Sortiment, es ist ein guter fließender Stausee und Jiaozi werden von unseren Gästen sehr gerne bestellt. Kommentare wie "Die Jiaozi sind ja so riesig" fanden bei mir kein Gehör, so nach dem Motto: "Falte Du mal 200 Stück per Hand, und das sieben Tage hintereinander, dann reden wir weiter..." Das habe ich zwar nicht wortwörtlich gesagt, aber in diesem Punkt muss ich auf Perfektion verzichten - auch wenn es schmerzvoll ist und ich von der Kunstfertigkeit her viel Besseres zu bieten habe.
Gestern packte mich mein Neugier, und ich hatte Lust, einfach mal den Teigmantel von 10 cm Durchmesser auf 8 cm zu reduzieren und die Stärke des Teigmantels zugleich zu halbieren. Als Ergebnis kam etwas wunderbar Phantastisches zustande, etwas unbeschreiblich Leckeres, dessen Unterschied ich es nicht in Worten zu fassen vermag. (Siehe Foto)
Schnell ratterte es in meinem Kopf: wann kann ich so winzig kleine Shandong-Jiaozi bei Bistro Ginkgo anbieten?
Die Gäste müssen hier im Gastraum sitzen, so dass die Jiaozi von der Pfanne unmittelbar auf den Tisch der Gäste gelangen.
Es muss wie bei einer Aufführung sein, das heißt, eine Anzahl Gäste bekommt zugleich jeweils zwei Jiaozi als einen Gang des Menüs.
Bis dahin bitte ich Sie um Geduld. Dieser Tag wird bestimmt kommen, dessen sind wir uns im Team sicher.
Guten Appetit
wünscht Ihnen das Bistro Ginkgo Team
Duisburg, den 20. September 2021
Comments